„Im Wind“ - Als Selchenbach beinahe ein Kunstwerk bekam

von Hans Kirsch

 

Immer, wenn Robert Schad von St. Wendel aus, wo er seinen Künstlerkollegen Leo Kornbrust besuchte, in Richtung Autobahnauffahrt Konken fuhr, gefiel ihm eine Örtlichkeit ganz besonders: 

die höchste Stelle des Klingelberganstiegs der B 420 zwischen Marth und Selchenbach. Hier, sagte er sich öfter, wäre ein idealer Ort, wo eine seiner Plastiken, die er aus Stahlstäben zusammenfügt, aufgestellt werden könnte. Weithin sichtbar, vom Wind umbraust – ein Künstlertraum. Und eines Tages schien sich der Traum zu erfüllen. Der Verein „Straße des Friedens“, der seinen Sitz in St. Wendel hat, beabsichtigte im Jahr 2006, bei der Ausgestaltung einer Skulpturenstraße quer durch Europa auch eine Stahlplastik von Robert Schad aufzustellen. Da kam für den Künstler natürlich nur ein Standort in Frage: die höchste Stelle des Klingelberganstiegs, dort wo ein Weg von der Bundesstraße zum Königreicher Hof abzweigt.

 


Die für Selchenbach vorgesehene Stahlskulptur „Im Wind“. Fotomontage des Vereins „Straße des Friedens“

 

Der Künstler, der Stahl „tanzen“ lässt

Geboren wurde Robert Schad 1953 in Ravensburg in Baden-Württemberg. Er studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe und erhielt Stipendien in Frankreich und Portugal. Als sein liebstes Arbeitsmaterial entdeckte er den Stahl, meist Vierkantstahl, dem er durch seine Arbeit die Kälte und Härte zu nehmen sucht, indem er ihn so zusammenbaut, dass er an etwas Körperliches oder Pflanzliches erinnert. Es geht ihm vor allem darum, verschiedene Formen von Lebenslinien zu finden, die manchmal ruhig, manchmal auch heftig sein können – wie das Leben selbst. Nach etlichen Jahren war Schad ein arrivierter Stahlbildhauer mit einer Viel-zahl von Ausstellungen in vielen europäischen Ländern. Großplastiken von ihm stehen unter anderem in Stuttgart, Marbach und Saarbrücken. In Saarlouis waren 2018 gleich 17 stählerne Schad-Skulpturen über das gesamte Stadtgebiet verteilt für das Kunstprojekt „Metz und Saarlouis im Dialog“. Seit dem Jahr 2000 lebt und arbeitet Schad in dem französischen Dorf Larians, Departement Haut Saone, wo er einen großen Skulpturenpark aufgebaut hat. 

 


Der Künstler Robert Schad vor einer seiner Stahlskulpturen, Bremen 2020. Foto: kultur-vor-ort.com

 

Schads Darstellungen haben stets die Intention, Räume mit Skulpturen neu zu definieren und sie dabei mit so genannten „Zeichnungen“ zu versehen. Die Vierkantstäbe, die er – je nach Dimension der Gesamtskulptur - unterschiedlich stark ausprägt und verkantet, führen dazu, dass meist ein filigranes, eher „zeichnerisches“ Gebilde entsteht, das sich vom Boden löst und auf unterschiedliche Weise in den Raum hineinragt. Manchmal erreichen die „Zeichnungen“ die Höhe von hochgewachsenen Bäumen, und mitunter entsteht bei dem Betrachter der Eindruck, als würden die Gebilde geradezu tanzen.

Prägend sind auch Schads Dialoge zwischen Kunst und Natur. Erkennbar wird das  beispielsweise an der für Selchenbach vorgesehenen Skulptur. Zwei grazile, verkantete Stahlstäbe, die sich beim Aufwärtsstreben mehrfach kreuzen und wieder zusammenfinden und die in ihrer gebogenen Form wie von Stürmen gebeugt erscheinen. Sichtbar eine Hommage an die von Windböen umtoste Kuppe des Klingelbergs.

 

Das Projekt „Straße des Friedens“

Die Stahlskulptur bei Selchenbach sollte nicht nur als Einzelkunstwerk den Betrachter erfreuen, nein, sie war vielmehr als Bestandteil eines großen Projekts geplant. Sie sollte eine Station der europaweiten „Straße des Friedens“ sein. Die Idee einer solchen Völker verbindenden Straße stammte ursprünglich von dem im Jahr 1878 in Pommern (heute Polen) geborenen, später in München, Berlin und ab 1925 in Paris lebenden jüdischen Maler Otto Freundlich. Der hatte sich 1914 zunächst freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, sich dann aber nach Fronterfahrungen der Anti-Kriegsbewegung angeschlossen. Die Sprache seiner Bilder war anfangs von einer dynamischen Verbindung abstrakter und gegenständlicher Formen gekennzeichnet. Er hielt Vorträge und veröffentlichte kulturpolitische Texte in expressionistischen Zeitschriften.  In seinem Pariser Atelier eröffnete er eine private Akademie für Malerei, Zeichnen, Bildhauerei und Holzschnitt. Politisch sah er seinen Platz an der Seite des revolutionären Proletariats, in seinen Werken folgte er dem Ideal einer sozial eingebundenen, ethisch verpflichteten Kunst. Mit der Zeit gelangte er immer stärker zu abstrakten Farbflächen in geometrisch ineinandergefügten Formen. 

 

Selchenbach Kunstwerk 03
Der Maler Otto Freundlich, um 1925. Foto: S. Graf, Saargeschichten 1/2021

 

Selchenbach Kunstwerk 04
Professor Leo Kornbrust aus St. Wendel. Foto: E. Pfeiffer

 

In der nationalsozialistischen Zeit galt Freundlich von Anfang an als verfemt. 14 seiner Arbeiten wurden aus deutschen Museen entfernt und zerstört, zwei im Jahr 1937 in der diffamierenden Wanderausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Damals entwickelte Otto Freundlich erstmals die Idee zweier durch Europa verlaufender Skulpturenstraßen: Eine sollte zu Ehren von Paul Cézanne und Vincent van Gogh in Europa von Norden nach Süden verlaufen; die zweite von Paris aus durch Frankreich, Deutschland, Polen bis nach Moskau in Russland. Die Straßen sollten Frieden, Solidarität und Freiheit symbolisieren. Verwirklichen konnte Freundlich seine Pläne jedoch nicht.

Als der Zweite Weltkrieg begann, war Freundlich in Paris „Staatsbürger eines Feindstaates“, wurde verhaftet und interniert. Als er wieder freikam, floh er in die unbesetzte französische Zone, wo er die Auswanderung in die Vereinigten Staaten erwog. Jedoch konnte er die dafür erforderlichen Gebühren nicht aufbringen. Am 21. Februar 1943 wurde er in dem Dorf Saint-Martin-de-Fenuillet aufgrund der Denunziation eines Nachbarn verhaftet und in das Lager Gurs eingeliefert. Von hier aus kam er nach Drancy und anschließend in das Konzentrationslager Majdanek-Lublin, wo er Ende März 1943 ermordet wurde.

 

Der Verwirklicher: Leo Kornbrust aus St. Wendel

Ab 1971 entstand, ausgehend von St. Wendel in Richtung Bostalsee, auf einer Strecke von 25 Kilometern ein Bildhauersymposion mit 53 Skulpturen von 48 Künstlern aus zwölf Ländern. Das Projekt stand unter der Leitung des St. Wendeler Bildhauers Professor Leo Kornbrust, der von 1951 bis 1957 an der Akademie der Bildenden Künste in München studiert hatte und in den 1970er Jahren auch Prorektor dieser Einrichtung war. 1978 baute Kornbrust das Bildhauersymposion zu einer „Straße der Skulpturen“ aus. Dabei erfuhr er, dass bereits in den 1930er Jahren ein Maler namens Otto Freundlich die Idee zu einer Völker verbindenden Friedensstraße entwickelt hatte. In der Folgezeit setzte Kornbrust alles daran, die Pläne Freundlichs umzusetzen und die „Straße des Friedens“ auszubauen: durch Integration weiterer Bildhauersymposien, aber auch durch die Errichtung weiterer Skulpturen, die von Künstlern aus aller Welt geschaffen werden sollten. Im Jahr 2000 war die Erweiterung schon weit fortgeschritten, es gab jetzt die Teilstrecken „Steine auf der Grenze“ bei Merzig, das Dillinger Bildhauersymposion, die „Welle des Lebens“ in Otzenhausen, ein Skulpturenpark in Ebernburg. Auch in Salzgitter und Berlin, in Frankreich, Belgien, Luxemburg und Polen (am Geburtsort Freundlichs in Slupsk) hatten sich neue Kooperationspartner der Völker verbindenden „Friedensstraße“ angeschlossen.

Selchenbach Kunstwerk 05

 

Ein wichtiges Hilfsmittel war dabei der 2004 gegründete Verein „Straße des Friedens – Straße der Skulpturen in Europa – Otto-Freundlich-Gesellschaft e.V.“, dessen Geschäftsstelle sich in St. Wendel befand. Hier wurde 2006 im Gespräch zwischen Leo Kornbrust und Robert Schad die Idee geboren, im Zuge der „Straße des Friedens“ auf der höchsten Stelle des Klingelbergs eine neue Stahlskulptur von Robert Schad aufzustellen. Ihr Name sollte lauten: „Im Wind“.

Und so ging es weiter ….

Zunächst war es notwendig festzustellen, auf welcher Gemarkung die ausgesuchte Stelle lag: War es St. Wendel-Marth im Saarland oder Selchenbach in Rheinland-Pfalz? Die Abklärung ergab, dass der Platz zur Gemarkung Selchenbach gehörte. Der damalige Kuseler Landrat Dr. Winfried Hirschberger, selbst Mitglied im Verein „Straße des Friedens“, war erfreut über die beabsichtigte Aufstellung eines Kunstwerks in einer Kuseler Gemeinde und vermittelte den Kontakt zum Selchenbacher Ortsbürgermeister Manfred Harth und zum Vorsitzenden des Heimat- und Kulturvereins Ostertal, der in Selchenbach wohnt. Von Vorteil war, dass die Fläche, auf der die Skulptur zu stehen kommen sollte, der Gemeinde selbst gehörte.

Nach Überwindung einiger bürokratischer Hürden lag im September 2007 der Antrag des Vereins auf Errichtung einer 15 Meter hohen Stahlskulptur an der Zufahrt zum Königreicher Hof dem Selchenbacher Gemeinderat vor. Dieser musste, da es sich um eine Grundstücksangelegenheit handelte, den Tagesordnungspunkt unter Ausschluss der Öffentlichkeit behandeln. Nach der Aussprache über die Einzelheiten des Projekts bewilligte der Rat bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung dem Verein eine Grunddienstbarkeit zur Nutzung der Fläche und verpflichtete ihn, die Gemeinde von allen Schäden, die durch die Aufstellung der Skulptur eintreten könnten, freizustellen. Die finanziellen Mittel für die Skulptur sollten aus einem Kulturförderprogramm der Europäischen Union kommen.

In der Gemeinde Selchenbach hatte sich mittlerweile zwar herumgesprochen, dass auf der Höhe beim Königreicher Hof ein „Kunstwerk“ aufgestellt werden solle, aber die Einzelheiten waren den meisten Einwohnern noch unbekannt. Deshalb entschloss sich der Gemeinderat, zusammen mit dem Heimat- und Kulturverein Ostertal eine Informationsveranstaltung zu dem Projekt durchzuführen. Diese fand am 13. November 2007 im Dorfgemeinschaftshaus statt und war recht gut besucht. Professor Leo Kornbrust erläuterte den Besuchern zunächst die Ursprünge und die Entstehung der „Straße des Friedens“ und kam dann zu der geplanten, 15 Meter hohen Stahlskulptur, die an der B 420, Höhe Einfahrt zum Königreicher Hof, errichtet werden sollte. An einem etwa meterhohen Modell der Skulptur, das Kornbrust mitgebracht hatte, erklärte er die Intentionen und die Vorgehensweise des Künstlers Robert Schad, der selbst nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnte. Auf die Modernität des Werks angesprochen, sagte Kornbrust: „Kunst ist heute nicht mehr gegenständlich. Der heutige Künstler gibt keine Richtung vor, vielmehr muss der Betrachter eine eigene Beziehung zu dem Kunstwerk entwickeln.“ Am Ende der Veranstaltung kündigte Kornbrust an, die Skulptur werde, trotz einiger Verzögerungen bei der Prüfung der Statik, bis Ende Dezember 2007 aufgestellt sein.

Doch das Jahr ging zu Ende, und die Skulptur stand immer noch nicht. Mehrfach hieß es auf Nachfragen, die statischen Prüfungen seien noch nicht abgeschlossen. Auch von einer Verringerung der Höhe des Kunstwerkes war die Rede. Anfang Mai 2008 übermittelte Leo Kornbrust schließlich die Nachricht, dass die Stahlskulptur von Robert Schad nicht an der vorgesehenen Örtlichkeit in Selchenbach aufgestellt werden könne. Der Grund liege darin, dass kein Statikbüro zu finden gewesen sei, das dem hohen Bauwerk an dieser exponierten, windanfälligen Stelle die Unbedenklichkeit in statischer Hinsicht bescheinigen konnte, auch nicht bei einer Verringerung der Höhe um mehrere Meter.

Mit diesem für Selchenbach und sicher auch für Robert Schad enttäuschenden Ergebnis musste sich der Verein „Straße des Friedens“ einen anderen, geeigneteren Standort suchen und fand ihn schließlich am Gudesberg oberhalb St. Wendel, am Rande der Skulpturenstraße. Die offizielle Einweihung des Kunstwerkes, das nur noch neun Meter hoch ist, fand am 22. Juni 2008 statt. An ihr nahmen auch einige wenige Personen aus Selchenbach teil; für sie war die Feier an dieser Stelle eher ein trauriger Akt.

Im Juli 2021 ist Professor Leo Kornbrust verstorben.


Die nur noch neun Meter hohe Stahlskulptur „Im Wind“ am heutigen Standort bei St. Wendel. Foto: Verein „Straße des Friedens“